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Architektur und Widerstand
in Memoriam Margarete Schütte-Lihotzky

von Herwig Siebenhofer

Erstveröffentlichung: Jänner 2000
Medium: TU Info

Mit dem Rat ihres Architekturlehrers an der Wiener Kunstgewerbeschule, der heutigen Universität für angewandte Kunst, „Gehen Sie in die Arbeiterbezirke und sehen Sie sich an, wie die Leute wirklich leben!”, begann für Margarete Schütte-Lihotzky ihr sozialpolitisches Wirken. Neben ihren Entwürfen von Sozialbauten – vor allem in Österreich und Deutschland – (Stichwort: „Frankfurter Küche”) plante sie auch Erziehungs- und Schulbauten von Istanbul bis Moskau. 1940 kehrte sie aus der Türkei nach Österreich zurück, um sich im Widerstand gegen die Nazis zu betätigen. Nach nur 25 Tagen illegaler Arbeit wurde sie von der Gestapo festgenommen. Statt dem ursprünglich von den Nationalsozialisten geplanten Todesurteil wurden 15 Jahre Zuchthaus verhängt, von denen sie 5 Jahre in Haft war.

Erste Absolventin der Architektur

Von Josef Hoffmann anfangs wegen ihres Geschlechts abgelehnt, schrieb sie sich 1915 unter Oskar Strnad und Heinrich Tessenow für das Studium der Architektur an der K.K. Kunstgewerbeschule ein und beendete dieses 1919 als erste Frau in Österreich. Aufbauend an den Arbeiten ihrer Diplomarbeit engagierte sie sich ab 1920 in der SiedlerInnenbewegung, wo sie verstärkt mit den Problemen und Lebensbedingungen der Wiener ArbeiterInnenschaft zu tun hatte. Die Einsicht, dass das Elend der Menschen maßgeblich mit den ungelösten Wohnungsfragen zusammenhing, prägte ihr gesamtes Lebenswerk. Unter zu Hilfenahme standardisierter Massenfertigung und der Ausnützung neuer Technologien entwickelte sie neue Organisationsformen des Wohnens die gesundheits-ergonomisch ausgerichtet waren und durch ihre arbeits- und platzsparenden Konzeptionen für sozial Schwächer erschwinglich waren. Zum bekanntesten Werk zählt die „Frankfurter Küche”, ein Auftrag des Frankfurter Hochbauamts 1926 im Rahmen der Errichtung neuer Gemeindebauten. 1930 ging sie mit Ernst May nach Moskau um Kinderbauten und Industriestädte zu planen.

Widerstand gegen den Nationalsozialismus

1937 verließ sie gemeinsam mit ihrem Mann die Sowjetunion um in Paris, London und Istanbul internationale Kontakte im Kampf gegen die Nazis zu knüpfen. „Wir waren überzeugt, mein Mann genauso, dass der Nationalsozialismus ein Unglück ist für die Welt und Europa, nicht nur für Österreich. Wie die Nazis hier einmarschiert sind, am 13. März 1938, waren wir in Paris und das war für uns dort schon ein Trauertag. Alle Nationalisten treiben zum Krieg.”, so Margarete Schütte-Lihotzky in einem Interview für die Zeitung der ÖH-Boku (1995).

Ab 1938 arbeitete sie auf Einladung von Bruno Taut an Schul- und Kinderkartenprojekten sowie Wohnstädte in Istanbul. Dort traf sie auf einige Exil-ÖsterreicherInnen, die sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus befanden. Unter ihnen der Graz Architekt und Absolvent der TU-Graz Herbert Eichholzer, der 1943 wegen des Aufbaus einer Widerstandsgruppe in der Steiermark von den Nazis ermordet (zum Tod verurteilt und hingerichtet) wurde; auch Univ.-Prof. Dr. Dobretsberger, unter Schuschnigg Wirtschaftsminister, der als praktizierender Katholik ein überzeugter Nazigegner war und als Protest auf Schuschniggs mangelndes Entgegentraten gegen die Nazis nach einem Jahr aus seinem Ministeramt zurücktrat.

Nach einem Jahr Aufenthalt in Istanbul trat sie der KPÖ-Auslandorganisation bei, in deren Auftrag sie 1940 nach Wien zurückkehrte um das 1939 zerschlagene Widerstandsnetz gegen die Nazis wieder aufzubauen. Diese Arbeit dauerte nur 25 Tage bis sie zusammen mit Erwin Puschmann von der Gestapo verhaftetet wurde. Beide wurden mit vier weiteren Angeklagten vor dem zweiten Senat des „Berliner Volksgerichtshofs” verurteilt. Margarete Schütte-Lihotzky kam dabei mit dem Leben davon – das Urteil: statt dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Todesurteil, 15 Jahre Zuchthaus, welche sie in Aichach (Bayern) absitzen musste. Nach etwa 5 Jahre, am 29. April 1945, wurde sie von amerikanischen Truppen befreit. Nach dem Krieg nimmt sie ihre Tätigkeiten als Architektin sowie ihr politisches und soziales Engagement wieder auf.

Das erste Opfer der neuen Rechtsradikalen war ja der Kirchweger, der erschossen wurde. Der war ein Kommunist. Es hat damals einen Professor namens Borodajkewycz an der Hochschule für Welthandel gegeben, der ein richtiger Nazi war. Da gab es eine Demonstration gegen diesen Professor. Von der Technischen Hochschule sind wir zum Ballhausplatz gegangen. Zwischen Sacher und Oper sind die Neofaschisten gestanden und haben Stunk gemacht und geschrien. Es war viel zu wenig Polizei. Und da ist es passiert, der Kirchweger ist kurz vor mir gegangen. Er ging hin und wollte mit den jungen Leuten sprechen, wollte sagen, ihr seids auf dem falschen Weg. Dabei ist er umgebracht worden. Und nachher bei seinem Begräbnis am Heldenplatz waren alle Parteien vertreten. Das war eine Riesengeschichte dieses Begräbnis, weil es mit Recht geheißen hat, daß Kirchweger das erste Opfer der Nazis nach dem Krieg war. 1965 war das, das heißt verhältnismäßig bald waren die Neonazis schon so weit, daß sie den umgebracht haben, nur weil er hingegangen ist, um mit ihnen zu reden; er hat doch keine Waffe gehabt.” (Zitat: M. Schütte-Lihotzky in der Zeitung der ÖH-Boku, 1995). Der Täter, damals ein RFS-Mitglied, wurde nur wegen Todschlags verurteilt.

Späte Ehrungen

Ihre Arbeiten im Bereich der Architektur waren ab 1946 von einem Boykott der Stadt Wien gekennzeichnet, da sie nicht bereit war aus der KPÖ auszutreten. Erst ab ihrem 90 Geburtstag wurde sie mit Ehrungen überhäuft; darunter ein Ehrendoktorat der TU-Graz im Jahr 1989. Pompös gefeiert wurde ihr 100. Geburtstag 1997. Dazu Margarete Schütte-Lihotzky: „Als leidenschaftliche Architektin würde ich auch heute noch sehr gerne bauen. Doch die Rolle eines Puffers zwischen Bauherr und Unternehmer, die man dabei stets einnehmen muss, ist mir inzwischen zu anstrengend – schließlich werde ich hundert Jahre alt”. In das Bild des Boykotts durch die SPÖ während ihrer Berufstätigkeit und den späten Ehrungen in der Zeit nach der Berufsausübung fügt sich die erste Reaktion des Wiener Bürgermeisters Häupl auf ihre Todesnachricht ein: „Mit Margarete Schütte-Lihotzky, deren Denken, deren gebaute Ideen weit über ihren Tod hinaus wirken werden, verliert diese Stadt eine große Persönlichkeit”.

Am 18. Jänner 2000 fünf Tage vor ihrem 103. Geburtstag verstarb die „Grand Dame der Architektur” Margarete Schütte-Lihotzky an Herzversagen in Folge einer Grippeinfektion im Wiener AKH.


Zeittafel

      Geb. 23.01.1897 in Wien
1921: erste Zusammenarbeit mit Adolf Los für eine Kriegsinvalidensiedlung in Wien
1921 – 1925:    Arbeit beim österreichischen Verband für Siedlungswesen für das Siedlungsamt Wien
1922: bronzene Medaille der Stadt Wien
1923: silberne Medaille der Stadt Wien
1926 – 1930: Berufung an das Hochbauamt der Stadt Frankfurt/Main
1930 – 1937: Arbeiten für Kinderkartenbauten in Moskau und Aufbau neuer Städte in der Sowjetunion
1933: Ausstellung in Chicago
1934: Studienreise nach China; Ausarbeitung von Richtlinien für Kinderanstalten in China
1937: Mitglied einer sowjetischen Regierungskommission zur Auswahl von Möbelmodellen
1938: theoretische Arbeiten für tuberkulös gefährdete Kinder für das Gesundheitsministerium in Paris
1938 – 1940: Projektierung von Frauenberufsschulen und Dorfschulen in der Türkei
1941 – 1945: wegen der Beteiligung am Widerstandskampf gegen das NS-Regime in Haft
1946 – 1947: Leitung der Abteilung für Kinderbauten in Sofia
ab 1947: Privatarchitektin in Wien
1956: zweite Studienreise nach China; Vorlesungen an der Technischen Universität Peking
1963: Berufung nach Havanna
1966: Mitarbeiterin der Deutschen Bauakademie in Berlin; Aufgabengebiet Kinderbauten
1977: Joliot-Curie-Medaille für Leistungen für die Weltfriedensbewegung
1978: Ehrenabzeichen „Befreiung Österreichs”
1979: Vorträge über Siedlungsbau an der TU-Wien
1980: Preis für Architektur der Stadt Wien
1981 – 1982: Memoiren „Erinnerungen aus dem Widerstand, 1938-45”
1987: Ehrenmitglied der Hochschule für angewandte Kunst Wien
1988: Österreichischen Ehrenabzeichen für Wissenschaft und Kunst
1989: Ehrendoktorat der TU-Graz
1989: Erster Preis der Ikea-Stiftung an der Rietveld Akademie in Amsterdam
1990: 1:1 Nachbildung der „Frankfurter Küche” im Museum für angewandte Kunst
1991: Entwicklung von Wohnprojekten im Rahmen der Vorbereitungen für die EXPO 1995 in Wien
      Gestorben am 18.01.2000 in Wien