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Empfehlung NR. R (97) 20
Des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten
(angenommen vom Ministerkomitee am 30. Oktober 1997, anlässlich der 607. Sitzung der Ministerdelegierten)
über die Hassrede
Das Ministerkomitee, gestützt auf Artikel 15.b der Statuten des Europarates,
In Erwägung, dass es das Ziel des Europarates ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen;
In Erinnerung an die Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Europarates, die am 9. Oktober 1993 in Wien verabschiedet wurde;
In Erinnerung daran, dass die Erklärung von Wien das derzeitige Wiederaufkommen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sowie die Entstehung eines Klimas der Intoleranz hervorgehoben hat; in Erinnerung auch daran, dass die Erklärung eine Verpflichtung enthielt, alle Ideologien, Politiken und Praktiken, welche zu Rassenhass, Gewalt und Diskriminierung anstiften, sowie jede Handlung oder Äusserung zu bekämpfen, die Ängste und Spannungen zwischen Gruppen verschiedener rassischer, ethnischer, nationaler, religiöser oder sozialer Zugehörigkeit verstärken;
In Bekräftigung seiner tiefen Verbundenheit mit der Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit, wie sie in der Erklärung über die Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit vom 29. April 1982 ausgedrückt wurde;
In Verurteilung - im Sinne der Erklärung von Wien und der Erklärung über die Medien in einer demokratischen Gesellschaft, die an der 4. Europäischen Ministerkonferenz über die Politik der Massenkommunikation (Prag, 7./8. Dezember 1994) verabschiedet wurde - aller Ausdrucksformen, die zu Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und jeglicher Form von Intoleranz anstiften, weil sie die demokratische Sicherheit, den kulturellen Zusammenhalt und den Pluralismus unterwandern;
In der Feststellung, dass diese Ausdrucksformen noch grössere und schädlichere Auswirkungen haben können, wenn sie über die Medien verbreitet werden;
In Erwägung, dass die Notwendigkeit, diese Ausdrucksformen zu bekämpfen bei Krisensituationen, Krieg und anderen Formen des bewaffneten Konflikts noch dringlicher ist;
In der Meinung, dass es notwendig ist, den Regierungen und den Mitgliedstaaten Richtlinien zu geben über die Art und Weise, wie diese Ausdrucksformen zu behandeln sind; in Anerkennung, dass den meisten Medien keine solchen Ausdrucksformen vorgeworfen werden können;
Im Bewusstsein von Artikel 7 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über das grenzüberschreitende Fernsehen sowie der Rechtsprechung der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention bezüglich Artikel 10 und 17 dieser Konvention;
In Erwägung des Konvention der Vereinten Nationen über die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung und der Entschliessung (68) 30 des Ministerkomitees über die Massnahmen, die gegen die Anstiftung zum Hass von Rassen, Nationen und Religionen zu treffen sind;
In der Feststellung, dass nicht alle Mitgliedstaaten dieses Übereinkommen unterzeichnet, ratifiziert und im Rahmen ihrer nationalen Gesetzgebung eingesetzt haben;
Im Bewusstsein der Notwendigkeit, dass zwischen der Bekämpfung des Rassismus und der Intoleranz und der Notwendigkeit, die freie Meinungsäusserung zu schützen, ein Gleichgewicht hergestellt wird, um das Risiko zu vermeiden, dass die Demokratie zu ihrer Verteidigung untergraben wird;
Im Bewusstsein auch der Notwendigkeit, dass die editoriale Unabhängigkeit und Autonomie der Medien respektiert wird;
Empfiehlt den Regierungen der Mitgliedstaaten:
1.auf der Basis der im Anhang zu dieser Empfehlung aufgeführten Grundsätze ein angepasstes Handeln zur Bekämpfung der Hassrede vorzunehmen;
2.sicherzustellen, dass dieses Handeln sich in den Rahmen eines globalen Handelns einfügt, das die Ursachen, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller oder anderer Natur, die dieser Erscheinung zugrunde liegen, angeht;
3.wenn dies noch nicht geschehen ist: die Unterzeichnung, Ratifizierung und wirksame Einführung im innerstaatlichen Recht der Konvention der Vereinten Nationen über die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung gemäss der Entschliessung (68) 30 des Ministerkomitees über die zu treffenden Massnahmen gegen die Anstiftung zum Hass gegen Rassen, Nationen und Religionen;
4.ihre innerstaatliche Gesetzgebung und Praxis zu überprüfen, um sicherzustellen, dass sie den Grundsätzen entsprechen, die im Anhang zu dieser Empfehlung aufgeführt sind.
Die im folgenden aufgeführten Grundsätze sind auf die Hassrede anwendbar, insbesondere diejenige, die über die Medien verbreitet wird.
Zu den Zwecken der Anwendung dieser Grundsätze umfasst der Begriff „Hassrede“ jegliche Ausdrucksformen, welche Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, dazu anstiften, sie fördern oder rechtfertigen, einschliesslich der Intoleranz, die sich in Form eines aggressiven Nationalismus und Ethnozentrismus, einer Diskriminierung und Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, Einwanderern und der Einwanderung entstammenden Personen ausdrücken.
Eine besondere Verantwortung liegt bei den Regierungen der Mitgliedstaaten, den Behörden und öffentlichen Institutionen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, sowie bei den Angestellten, die sich der Verbreitung von Erklärungen, insbesondere über die Medien, enthalten sollten, welche verstandesmässig aufgefasst werden können als Hassrede oder als eine Rede mit der Wirkung, dass Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Diskriminierung oder von Hass, die auf Intoleranz gründen, gutgeheissen, verbreitet oder gefördert werden. Diese Ausdrucksformen müssen bei jeder Gelegenheit öffentlich verboten und verurteilt werden.
Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten einen umfassenden und adäquaten juristischen Rahmen einrichten oder bewahren, bestehend aus zivil-, straf- und verwaltungsrechtlichen Bestimmungen über die Hassrede. Dieser Rahmen sollte den Verwaltungs- und Gerichtsbehörden erlauben, in jedem Fall die Achtung vor der Meinungsäusserungsfreiheit mit der Achtung vor der Menschenwürde und dem Schutz des Rufes oder der Rechte anderer in Übereinstimmung zu bringen.
Zu diesem Zweck sollten die Regierungen der Mitgliedstaaten nachfolgende Mittel prüfen:
- die Förderung und Koordination der Forschung über die Wirksamkeit der bestehenden Gesetzgebung und Rechtspraxis;
- die Überprüfung des bestehenden juristischen Rahmens, um sicherzustellen, dass er den verschiedenen neuen Medien, Kommunikationsdiensten und -netzen angepasst ist;
- die Entwicklung einer koordinierten Politik des Handelns der Staatsanwaltschaft, die sich auf nationale Richtlinien stützt, welche die Grundsätze dieser Empfehlung beachten;
- die Hinzufügung von Alternativmassnahmen zur Spannbreite der strafrechtlichen Folgen, indem Dienste des kollektiven Interesses realisiert werden;
- die Verstärkung der Möglichkeiten zur Bekämpfung der Hassrede über das Zivilrecht, zum Beispiel indem die betroffenen Nicht-Regierungsorganisationen die Möglichkeit erhalten, zivile Verfahren anzustrengen, indem die Opfer der Hassrede Schadenersatz erhalten und indem die Gerichte die Möglichkeit erhalten, Entscheide zu treffen, aufgrund derer die Opfer einen Anspruch auf Gegendarstellung erhalten oder eine Wiederaufnahme des Verfahrens verlangen können;
- die Information der Öffentlichkeit und der Medienverantwortlichen über die auf die Hassrede anwendbaren rechtlichen Bestimmungen.
Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass im rechtlichen Rahmen, wie er im 2. Grundsatz erläutert wird, jeder Eingriff der öffentlichen Behörden in die Meinungsäusserungsfreiheit eng begrenzt und nach dem Recht, in nicht willkürlicher Form und auf der Grundlage von objektiven Kriterien angewendet wird. Im weiteren bedarf nach dem Hauptgrundsatz des Rechtsstaates jede Begrenzung der Meinungsäusserungsfreiheit und jeder Eingriff in dieselbe einer unabhängigen gerichtlichen Kontrolle. Dies ist besonders wichtig in Fällen, in denen die Meinungsäusserungsfreiheit mit der Achtung vor der Menschenwürde und dem Schutz des Rufes oder der Rechte anderer zu vereinbaren sind.
Das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis sollten den Gerichten ermöglichen, zu berücksichtigen, dass konkrete Ausdrücke von Hassrede für einzelne oder Gruppen so beleidigend sein können, dass sie nicht den Grad von Schutz erhalten, der gemäss Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention anderen Ausdrucksformen zugestanden wird. Dies trifft zu, wenn die Hassrede auf die Zerstörung der anderen, durch die Konvention geschützten Rechte und Freiheiten oder auf breitere Einschränkungen als die in diesem Instrument vorgesehenen abzielt.
Das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis sollten erlauben, dass Vertreter der Staatsanwaltschaft oder anderer Behörden, die über ähnliche Kompetenzen verfügen, die Fälle von Hassrede innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeiten besonders prüfen. In dieser Hinsicht sollten sie insbesondere das Recht auf freie Meinungsäusserung des Angeschuldigten sorgfältig prüfen, in dem Masse wie die Auferlegung von Straffolgen im allgemeinen einen ernsthaften Eingriff in diese Freiheit bildet. Mit der Festlegung von Straffolgen gegenüber Personen, die wegen Vergehen im Zusammenhang mit Hassrede verurteilt werden, sollten sich die zuständigen Gerichtsbehörden streng an den Verhältnisgrundsatz halten.
Das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis im Bereich der Hassrede sollten die Rolle berücksichtigen müssen, welche die Medien bei der Informations- und Ideen-Vermittlung spielen, indem sie die konkreten Beispiele von Hassrede und die allgemeine dieser Rede zugrundeliegende Erscheinung sowie das Recht der Öffentlichkeit, diese Informationen und Ideen zu erhalten, auslegen, prüfen und erläutern.
Zu diesem Zweck sollten das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis eine klare Unterscheidung aufstellen zwischen einerseits der Verantwortlichkeit des Urhebers der Ausdrücke von Hassrede und andererseits der allfälligen Verantwortlichkeit der Medien und der Medienberufsleute, die im Rahmen ihres Auftrags, der Mitteilung von Informationen und Ideen über Fragen des öffentlichen Interesses, zu ihrer Verbreitung beitragen.
In der Weiterführung des 6. Grundsatzes sollten das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis berücksichtigen:
- dass die Informationen bezüglich Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und andere Formen von Intoleranz vollumfänglich durch Artikel 10 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt sind und nur mit Rücksicht auf die Bedingungen unter Absatz 2 dieses Artikels in sie eingegriffen werden kann;
- dass die Regeln und Kriterien, die von den nationalen Behörden verwendet werden, um die Notwendigkeit einer Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit zu beurteilen, mit den Grundsätzen unter Artikel 10 übereinstimmen müssen, wie sie von der Rechtsprechung der Organe der Konvention ausgelegt werden. Sie müssen insbesondere Form, Inhalt, Zusammenhang und Zweck der Informationen berücksichtigen;
- dass die Achtung vor der journalistischen Freiheit beinhaltet, dass die Gerichte und öffentlichen Behörden darauf verzichten, den Medien ihren Gesichtspunkt vorzuschreiben bezüglich der Arten von Informationstechniken, welche die Journalisten anzuwenden haben.